Thule – Das nördliche Ende der Welt

 

Die Insel Thule (teilweise auch „Tile“ genannt) bezeichnet das nördliche Ende der Welt und beschäftigt die Forschung schon seit Jahrhunderten. Martin Ninck bemerkt hierzu treffend:

„Über wenig Orte der Erde ist aber auch wohl mehr gestritten worden wie über diese Insel.“[1]

Bereits 330 v. Chr. unternahm der griechische Seefahrer Pytheas eine Erkundungsreise in die nördlichen Gefilde des Atlantiks und bezeichnete den nördlichsten Punkt seiner Reise als Thule. Leider existiert kein originaler Reisebericht der Expedition des Pytheas. Durch intensive Forschung und Sichtung antiker Literatur lässt sich jedoch die Insel Thule des Pytheas mit der norwegischen Insel Smøla, resp. mit der Inselgruppe Smøla, Hitra und Frøya am Fjord von Trondheim in Verbindung bringen. Bekannte Geographen wie Strabon[2], Eratosthenes[3] und auch Ptolemäus[4] befassten sich mit den Schilderungen von Pytheas und versuchten die genaue Lage von Thule zu ermitteln. Die genannten Gelehrten verwendeten für ihre Studien jedoch verschiedene Messmethoden, Koordinaten- und Entfernungsangaben. Mittels aufwendigen Umrechnungsmethoden und Berechnungen kann aufgezeigt werden, dass es sich bei Pytheasʹ Thule mit grosser Wahrscheinlichkeit um die Insel Smøla handelt.

Aber nicht nur die Berechnungen stützen diese Erkenntnis, sondern auch bronze- und eisenzeitliche Funde auf Smøla, die auf eine sehr frühe Besiedelung der Insel hindeuten. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass die gesamte Bucht rund um Trondheim Thule genannt wurde. Wie so oft in der Geschichte hatte die Reise des Pytheas einen rein wirtschaftlichen Zweck. Bereits damals war die Trondheimer Bucht ein florierender Handelsplatz. So war es das wirtschaftliche Interesse, welches Pytheas nach Thule führte und im Anschluss daran an die Deutsche Bucht, wo zur damaligen Zeit der begehrte Bernstein gefunden wurde.

Es ist nicht geklärt, ob Pytheas zu Beginn seiner Reise in Marseille schon Kenntnis von Thule hatte. Im Zeugnis des Geminos[5] ist das einzige Originalzitat aus dem Werk von Pytheas erhalten. Aus diesem geht hervor, dass Pytheas sich mit den Einwohnern von Thule verständigen konnte. Dies lässt wiederum auf die Anwesenheit von Dolmetschern schliessen, und somit liegt die Vermutung einer bereits bestehenden Verbindung nahe.

Pytheas war Geograph und dementsprechend daran interessiert zu erfahren, was sich weiter nördlich von Thule noch befindet. Er wird mit Sicherheit auch darauf hingewiesen worden sein, dass sich das Land in Richtung Norden noch weiter erstreckt. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass Pytheas selber nie bis in die Region des Polarkreises vorgedrungen ist. Die Frage, ob Pytheas unter Thule nur die Insel Smøla, die ganze Region um die Trondheimer Bucht oder aber ganz Norwegen bzw. Skandinavien verstanden hat, lässt sich nicht abschliessend klären. Ebenfalls nicht mit Sicherheit lässt sich sagen, ob Pytheas selbst Thule als Insel bezeichnet hat. An dieser Stelle sei erwähnt, dass kein antiker Geograph die Kenntnis darüber besass, dass es sich bei Skandinavien um eine Halbinsel handelt. Erstmals wurde dieser Fakt von Adam von Bremen im 11. Jahrhundert erwähnt.


[1] Martin Ninck. Die Entdeckung von Europa durch die Griechen. Basel: Schwabe, 1945.

[2] Strabon, ca. 63 v. Chr. bis 3 n. Chr., antiker Geschichtsschreiber und Geograph.

[3] Eratosthenes von Kyrene, ca. 276-273 v. Chr. bis 194 v. Chr., vielseitiger griechischer Gelehrter zur Blütezeit der hellenistischen Wissenschaften.

[4] Claudius Ptolemäus, ca. 100 n. Chr. bis ca. 160 n. Chr., Astronom und Mathematiker.

[5] Eminus von Rhodos, 1. Jh. v. Chr., griechischer Astronom, Stoiker und Mathematiker.