Im Hafen fahre ich zur See – Sebastian Münster und die Welt

EINFÜHRUNG zur Vernissage am 21.6.13 Prof. Ina Habermann

 

Diese Ausstellung ist aus einem interdisziplinären Seminar hervorgegangen (‚Paper Landscapes‘, Frühjahrssemester 2013) und wurde von den Studierenden erarbeitet. Sie beschäftigt mit dem humanistischen Gelehrten Sebastian Münster, der ab 1529 Professor für Hebraistik an der Universität Basel war und 1544 erstmals seine Cosmographia veröffentlichte, eine monumentale und ehrgeizige Weltbeschreibung.

Münsters Hauptgeschäft an der Universität Basel war die Hebraistik, wo er neben der Lehre bedeutende sprachwissenschaftliche Werke publizierte. Daneben lehrte er, der ja auch viele Jahre dem Franziskanerorden angehört hatte, zeitweise auch Theologie. Doch wie viele humanistische Gelehrte interessierte er sich gleichzeitig brennend für die Naturwissenschaften und die Geographie. Dies ist in Münsters Denken kein Widerspruch, da für ihn das Studium der Natur dem Wunsch entspringt, Gottes Schöpfung im Detail zu kennen und zu würdigen. Nicht umsonst hatte er sich Psalm 104, ein ausführlich beschreibendes Lob der Schöpfung Gottes, als Leitwort gewählt. In fast zwanzigjähriger Arbeit trug er das Material für die monumentale Weltbeschreibung zusammen, die sein berühmtestes Werk werden sollte und die so erfolgreich war, dass sie auch geeignet ist, einen repräsentativen Einblick in das Weltbild des 16. Jahrhunderts zu geben.

Einige Jahre zuvor hatte Münster noch die Geographie des Claudius Ptolemäus herausgegeben, des Pioniers der antiken Geographie, und obwohl er in vielem an Ptolemäus anknüpft, gibt sich Münster in seinem Hauptwerk mit der ‚Geographie‘ nicht mehr zufrieden – es soll eine Kosmographie werden. Das Werk stellt die Welt und die Kultur ihrer Bewohner in Vergangenheit und Gegenwart dar, reich bebildert durch kunstvolle Holzschnitte mit neuen Landkarten, Stadtansichten und Portraits sowie Darstellungen von Flora und Fauna, von Menschen bei der Arbeit und bei Kriegshandlungen, und erklärt alles verständlich und unterhaltsam in der Volkssprache.

Bemerkenswert ist, dass Münsters primäres Ordnungsprinzip der geographische Raum ist, mit einem Akzent auf der kartografischen Darstellung, womit er, wie gesagt, an Ptolemäus anknüpft. Gleichzeitig verbindet er diesen Zugang jedoch mit der beschreibenden Tradition der Antike, weshalb er als der ‚deutsche Strabo’ bezeichnet wurde. Nach einer Reihe von Übersichtskarten lässt Münster im ersten Buch einer Erläuterung der ptolemäischen Vermessungsmethoden eine Darstellung der Schöpfung folgen. Das zweite Buch widmet sich dann West- und Südwesteuropa, das deutlich längste dritte Buch der ‚Deutschen Nation’, und das vierte Nord-, Ost- und Südosteuropa.

Der Rest der Welt wird in den frühen Ausgaben ab 1544 sehr kurz abgehandelt, im fünften Buch zu Asien und den ‚Neuen Inseln’, im sechsten zu Afrika. Mit zunehmender Entfernung wird die Darstellung der fernen Weltgegenden immer fantasievoller. Hier bediente sich Münster unter anderem bei dem fiktionalen Reisebericht des ‚Jehan de Mandeville’ aus dem 14. Jahrhundert. 1550 erschien eine wissenschaftliche Ausgabe der Cosmographia auf Latein. Die letzte von Münster selbst verantwortete Ausgabe stammt aus seinem Todesjahr 1552. Die Cosmographia verbindet Geographie, Chorographie, Chronik und Reisebericht und fasst damit nicht nur das verfügbare Weltwissen zusammen, sondern erschafft auch eine – klar eurozentrische – Vorstellung der Welt, die lange fortwirkte und damit Teil der Realität geworden ist. Letztmals wurde die Cosmographia beim Petri Verlag im Jahr 1628 herausgegeben, mittlerweile angeschwollen auf zwei dicke Bände, und hier kommt das Projekt dann auch zu seinem Ende. Vom Umfang her explodiert es, doch geistesgeschichtlich gesehen ist das eher eine Implosion, denn mit der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 17. Jahrhundert war das Projekt nicht mehr zeitgemäss: Mythen und Monstererzählungen konnten nicht mehr ohne Weiteres neben mathematischen Berechnungen und dergleichen stehen. Der ideengeschichtliche und kulturhistorische Ort des Werkes ist das 16. Jahrhundert, eine faszinierende Phase des Umbruchs am Beginn der Neuzeit.

Ich möchte nun noch kurz erklären, warum wir vom Kompetenzzentrum Kulturelle Topographien der Universität Basel diese Ausstellung entwickelt und das Seminar dazu veranstaltet haben. Dies ist ein Zentrum zur interdisziplinären Erforschung von Raum, und in dieser Ausstellung befassen wir uns konkret mit den Raum- und Weltvorstellungen der frühen Neuzeit anhand einer Betrachtung der Cosmographia als ‚kulturelle Topographie‘. Wir möchten zeigen, dass Topographien, also Raumbeschreibungen, nicht einfach eine Wirklichkeit abbilden, sondern diese mit erzeugen, indem kulturelle Vorprägungen in die Erhebung, Organisation und Darbietung des Wissens einfliessen.

Topographien sind ‚kulturell orientierter Raum‘ (Hartmut Böhme, Hg., Topographien der Literatur, Stuttgart: Metzler, 2005: xx); es sind Aufzeichnungssysteme, Ordnungsverfahren, Aktionsräume. Solche Strukturen erzeugen Sinn, indem sie in kulturelle Zeichen umgesetzt werden, in Karten, Bilder, Beschreibungen und Erzählungen. Es bleibt Ihnen natürlich unbenommen, die Ausstellung einfach als Einblick in den Basler Humanismus und das Werk eines interessanten Gelehrten zu betrachten, aber ich glaube, dass durch die raumtheoretischen Überlegungen noch eine faszinierende Dimension hinzugefügt werden kann.

Sebastian Münsters Cosmographia ist eine kulturelle Topographie, da sich in diesem Werk verschiedene Dimensionen von Raum beispielhaft überlagern: der geographische, ver-messene und kartografierte Raum, Kulturlandschaften, soziale Netze, historische Zeiträume, vorgestellte Räume und Weltgegenden, mythische und metaphysische Räume, Text- und Bildräume.

Damit bietet das Werk eine ‚Dar-stellung‘ im doppelten Sinne – abgebildet wird etwas, das existiert und das doch gleichzeitig als solches in der Darstellung erst hervorgebracht wird. Am Beginn der Moderne beschreibt Münster seine Welt und hat damit Teil an der Erschaffung eines neuen Bildes der Welt. Physische Orte seines Schaffens sind Basel und die Oberrheinregion, Studierstube und Universität, Druckerei und Weinberg; der geistige Ort das humanistische Netzwerk, die Republik der Gelehrten, und die Schöpfung Gottes.

Ich möchte nun noch ein paar Worte zur Qualität dieses neuen Bildes der Welt sagen, das in Münsters Text entsteht. In der Vorrede an den Leser findet sich hierzu eine bedeutende Aussage. Münster beschreibt den Service, den er dem Publikum bietet: ‚Zu unseren Zeiten ist es nit gar von nöten, das du weit hin und här auff der erden umbhär schweiffest, zu besichtigen und erfaren gelegenheit der länder, stett, wässer, bergen und thäler, item sitten, gebreuch, gesätzt und regiment der menschen, eygenschafft und natur der thier, bäum und kreuter. Du magst dise Ding jetzunt in Büchern finden, und dar auß mer lernen und erkennen von disem oder jhenem Land, dan etwan ein ander, der gleich darin ist gewesen jar und tag.’ Hier ist ein zentraler Aspekt der Wissensproduktion der frühen Neuzeit angesprochen: das Buch erhebt den Anspruch, mehr zu zeigen, als die eigene bruchstückhafte Wahrnehmung liefern könnte. Hier möchte ich auf ein Buch von Moritz Reiffers hinweisen, dass sich genau mit dieser Thematik beschäftigt: Das Ganze im Blick. Eine Kulturgeschichte des Überblicks vom Mittelalter bis zur Moderne (Bielefeld: Transcript, 2013).

Der Autor bezieht sich auf einen wichtigen Aufsatz des französischen Philosophen Michel de Certeau aus dem Buch L’invention du quotidien, der darüber reflektiert, was geschieht, wenn man von der 110. Etage des World Trade Centers auf New York blickt. Das konnte man 1980 noch, einige Jahre nach dem Bau, als de Certeau den Aufsatz veröffentlichte. Der Blick von oben enthebt den Blickenden dem Gewimmel der Stadt, verleiht Macht und Kontrolle und erzeugt Lust, da ein quasi göttlicher Standpunkt eingenommen werden kann. „Von oben gesehen“, so Reiffers, „erscheint die Stadt als leserlicher, verständlicher ‚Text‘, während sie aus ihr selbst heraus betrachtet“ – also mit dem Blick ‚im unten‘ – „nur als ‚Wirrwar‘ erlebt wird.“ (Reiffers 2013: 11) Sicher war dies eine der Zumutungen des symbolträchtigen Terroranschlags vom 11. September 2001, dass hier die Aussichtstürme des mächtigen Amerika quasi blind geschossen wurden und damit auch die Tatsache ins Bewusstsein trat, dass der Überblick eben nicht vollkommen ist.

In der frühen Neuzeit ist die Darstellungstechnik, die diesen gottgleichen Überblick suggeriert, die Kartografie, und zwar besonders die Erstellung von Weltkarten. Das neuzeitliche Subjekt wünscht sich die ganze Welt auf einen Blick, und nicht von ungefähr war mit diesem Wissen historisch auch ein Machtanspruch verbunden, der sich in der Kolonialisierung manifestiert. Der englische Philosoph Francis Bacon bringt das um 1600 auf den Punkt: Knowledge is power, Wissen ist Macht. Auch bei Münster sieht man den Blick vom heimischen Basel und der Oberrheinregion in die fernen Weltgegenden schweifen, wo merkwürdige Kreaturen wohnen, die noch nicht ganz durch Beschreibung und Abbildung dingfest gemacht werden können. Dieser Logik folgt auch unsere Ausstellung; sie beginnt in der Studierstube in Basel mit dem Blick auf die Weltkarte, um dann den von Münster beschriebenen Raum der Welt auszufalten, bzw. aufzufächern, bis hin zum letzten Horizont des Wissens, wo die Drachen wohnen.

Wo es möglich ist, steigt Münster auch immer wieder von seinem Turm hinunter und geht ins Detail; er wertet gewissenhaft all die Quellen aus, die er für sein Vorhaben studiert hat und macht den Lesern die Informationen zugänglich. Er ist eben Wissenschaftler und Humanist; wenn man ihn als Eroberer sehen will, dann wohl als Eroberer des Geistes. Wir hoffen sehr, dass wir Ihnen mit dieser Ausstellung Sebastian Münster, die frühe Neuzeit, den Basler Humanismus und die Reflexion über kulturelle Räume etwas näher bringen können.